2. Schutz und Ausweitung der ästhetischen Lebenssphäre der Menschen vs. gnadenlose Zerstörung der letzten Reste ästhetischer
Lebenssphären in Städten und Landschaften und Ausweitung der Häßlichkeit (z.B. Sinfonien in Beton, Bebauung schöner Gegenden, Straßenverkehr ohne Ende).
Link: schöne Stadt Köln? [Link ist leider mittlerweile tot, März 09]
Link: schönes Giessen? - Diskussion unter Studenten.
Link: Die spanische Mittelmeerküste wird zunehmend erledigt. (Link ist tot, spätestens 2017)
Link: Der spanische Künstler César Manrique über Massentourismus und die Folgen auf Lanzarote. (Der Spiegel Nr. 12/1988)
interner Link: Gefühllosigkeit der Landschaften. Und die Folgen.
interner Link: 5 Schichten Scheiße
Literatur: Jochen Bölsche (Hg.): Die deutsche Landschaft stirbt. Zerschnitten, Zersiedelt,
Zerstört. (Spiegel-Buch, Reinbek bei Hamburg, 1983)
2013-Busstation Homberg Nieder Ofleiden (bei Marburg)
1. Beispiel:
Zuordnung der ‘Modernen Kunst’ zum Zerfall der Harmonie von Kultur und Natur
Die offizielle gegenwärtige Gesellschaft hat sich weitgehend desinteressiert gezeigt gegenüber der Frage ihrer ästhetischen Kritik
und ihrer Analyse. Stattdessen sollen heutzutage die Leute lernen, in sog. Kunstausstellungen idiotische Welten zu akzeptieren, weil dies - nach meiner Theorie - in der Tat ‚ihrer’ städtebaulichen sozialen
Realität entspricht. - Für die allgemeine Einübung in die Akzeptanz idiotischer Welten dient für Bildungsbürger offenbar als erste Adresse die ‚Documenta’ in Kassel, als internationales Kunstereignis. Hier
werden vollkommen hirnrissige Geschichten als ‘Kunst’ dargeboten. Künstler, die wirklich etwas Interessantes und Realististisches vorstellen wollen, haben hier nichts zu suchen. Ich denke dabei
insbesondere und paradigmatisch an den aus Gießen stammenden Maler Andreas Orosz. Da kann ich nur den Kopf schütteln über so viel
Ideologie unserer angeblich ideologiefreien Gesellschaft!
2. Beispiel:
Sinfonie in Beton
Gerhard Zwerenz: Bericht aus dem Landesinneren. City Strecke Siedlung. (Fischer Taschenbuch 1974) schreibt zu der Zeit, als sich Deutschland mit der 4. Schicht Scheiße überzog, nicht nur über Autobahnen und Großstädte sondern auch über seine Erlebnisse einer Neubausiedlung in der Nähe von Frankfurt: einer Sinfonie in
Beton. Er resümiert schließlich:
<In Nieder-Roden leben wir unter recht freundlichen Menschen. In den Geschäften
begrüßen die Leute einander mit dem Familiennamen, auf dem überlasteten Mini-Postamt bleiben die überarbeiteten Beamten auch im schlimmsten Gedränge ruhig und höflich.
Diese Umgänglichkeiten werden im Maße des Wachstums der Schroffheit und Hetze Platz machen. Der Mensch wird besiegt und seiner persönlichen Qualitäten enteignet. Selbst
wenn alle einzelnen Mängel bereinigt werden könnten, bliebe noch der Irrsinn einer Zukunft, vor der uns grausen muß: Ich blicke aus dem Fenster über den See, die
Gemeinde Nieder-Roden wächst weiter um den See herum, von der anderen Seite wachsen die nächsten Ortschaften heran, und alles miteinander wird jenen Betonklumpen
bilden, der Rodgau-Stadt heißen soll und seinerseits an seinen Grenzen mit den Nachbarn verschmilzt. Die jetzt noch am Horizont sichtbaren Wälder sind dann zu städtischen Parks
zusammengeholzt, St. Urbania hat die Natur vernichtet, die Menschen kaserniert, die Individuen bezwungen; zu welch einem Ameisendasein sind wir verurteilt? Die Stil- und
Strukturlosigkeit dieser Moderne ist bereits zu besichtigen, man gehe in die jetzigen Siedlungen und multipliziere deren Langeweile mit ihrer Häßlichkeit. Wo bleibt also die
Kraft, woher soll die Intelligenz kommen, die unsere zukünftigen Städte aus den Niederungen des schlechten Geschmacks und bloßen Profitstrebens emporhebt? Die
jungen Sozialisten, die radikalen Demokraten und humanen Architekten, die Wege zur Besserung vorschlagen, trifft die publizistische Keule der Herrschenden mit Wucht.
...Ich erlaube mir, gegen die Verwandlung der Natur in belebte Abfallhalden ästhetischen Protest vorzubringen.> (S.224/225)
3. Beispiel:
Moderne Architektur
Ursula Wöll schreibt im “Gießener Anzeiger” in der Rubrik “Kultur” am 06.05.03
Seite 30 über einen Besuch einer Ausstellung in der Frankfurter Schirn (“Visionen und Utopien”) unter der Überschrift: “
Rechte Winkel wider die Natur. Problematisch: Architekturzeichnungen in der Schirn”:
<...Die riesigen Wohnmaschinen eines Le Corbusier etwa fördern keineswegs die sozialen
Kontakte unter ihren Bewohnern. Auch ihre kostensparend errichteten Plagiate, die Menschen nur noch stapeln, verhindern die Zersiedelung der Landschaft nicht, weil die
Zwischenräume veröden. Generell fällt auf, wie wenig Aufmerksamkeit dem öffentlichen Raum geschenkt wird. Le Corbusier skizziert eine Stadtplanung, in der die Autobahnen
über die Hausdächer hinweglaufen. Ludwig Mies van der Rohe ist so fasziniert vom Skelettbau, der Glasfassaden-Hochhäuser ermöglicht, dass er die Ästhetik einer
gewachsenen urbanen Struktur aus den Augen verliert. Selbst Frank Lloyd Wright, der seine Wohnhäuser inmitten einer grünen Umgebung zeichnet, hat kein Gefühl dafür, dass
sich rechtwinklige Betonflächen mit der Natur beißen.>
4. Beispiel:
Hermann Hesse (1927)
<Wenn ich nach Monaten der Abwesenheit auf meinen Tessiner Hügel zurückkehre [Hesse meint damit sein Haus in Montagnola; M.A.], jedesmal wieder von seiner
Schönheit überrascht und gerührt, dann bin ich nicht ohne weiteres einfach wieder zu Hause, sondern muß mich erst umpflanzen und neue Saugwurzeln treiben, muß
Fäden wieder anknüpfen, Gewohnheiten wieder finden und da und dort erst wieder Fühlung mit der Vergangenheit und Heimat suchen, ehe das südliche
Landleben wieder zu munden beginnt. Es müssen nicht nur die Koffer ausgepackt und die ländlichen Schuhe und Sommerkleider hervorgesucht werden, es muß auch
festgestellt werden, ob es während des Winters tüchtig ins Schlafzimmer geregnet hat, ob die Nachbarn noch leben, es muß nachgesehen werden, was sich während
eines halben Jahres hier wieder verändert hat, und wieviel Schritte der Prozeß vorwärts gegangen ist, der allmählich auch diese geliebte Gegend ihrer lang
bewahrten Unschuld entkleidet und mit den Segnungen der Zivilisation erfüllt. Richtig, bei der unteren Schlucht ist wieder ein ganzer Waldhang glatt abgeholzt,
und es wird eine Villa gebaut, und an einer Kehre ist unsere Straße verbreitert worden, das hat einem zauberhaften alten Garten den Garaus gemacht. Die letzten
Pferdeposten unserer Gegend [gemeint sind Postkutschen; M.A.] sind eingegangen und durch Autos ersetzt, die neuen Wagen sind viel zu groß für diese alten, engen
Gassen. Also nie mehr werde ich den alten Piero mit seinen beiden strotzenden Pferden sehen, wie er in der blauen Postillonsuniform mit der gelben Kutsche
seinen Berg heruntergerasselt kommt, nie mehr werde ich ihn beim Grotto del Pace zu einem Glas Wein und einer kleinen außeramtlichen Ruhepause verführen. Ach,
und niemals mehr werde ich über Liguno an dem herrlichen Waldrand sitzen, meinem liebsten Malplatz: ein Fremder hat Wald und Wiese gekauft und mit Draht
eingezäunt, und wo die paar schönen Eschen standen, wird jetzt seine Garage gebaut.> (Zitat aus “Wiedersehen mit Nina”, in: Mit der Reife wird man immer jünger, Suhrkamp 2003, S.38 ff.)
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In einem Bericht über den kolumbianischen Philosophen Nicolás Gómez Dávila heißt es in
der Zeitschrift “Information Philosophie”:
<...Problematischer sind da schon die Produkte der modernen Architektur, für Gómez Dávila
ohnehin ein Syndrom für den Verfall des ästhetischen und mit ihm des moralischen Sinns: “Die größte Anklage gegen die moderne Welt ist deren Architektur.”
Die ökologischen Folgen der planlosen modernen Bauwut sind weithin bekannt und auch
wissenschaftlich erfasst. Weniger erforscht, weil schwerer zu ermessen, sind die moralischen Folgen dieser ästhetischen Verwahrlosung. Die ökonomische Mechanik jedenfalls, die als
Zwang im Inneren der Gesellschaft wirksam ist und alles und jeden dem Gesetz der rückhaltlosen Expansion unterwirft, entfaltet ihre größte Destruktivität gerade dann, wenn die
Wirtschaft schwarze Zahlen schreibt: “Der moderne Mensch zerstört mehr, wenn er aufbaut, als wenn er zerstört.” (S.29)
...Wie die klaustrophobe Vision einer Reihenhaussiedlung liest sich denn auch der folgende
Aphorismus: “Der Mensch wird eine Welt nach der Art der Hölle geschaffen haben, sowie er eine vollständig von seinen Händen geschaffene Umwelt bewohnen wird.”> (S.29)
Aus der Zeitschrift “Information Philosophie” 3/2006, S.29. In der Rubrik “Positionen” der Artikel “Nicolás Gómez Dávila. Dargestellt von René Steininger” (S. 28-31)
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Virtuosenkunst vs. Moderne Kunst
<Die Renaissance entspringt aus der neuartigen Organisation des Kunstsystems, dank welcher sich die Fähigkeit zur Erzeugung von
Kunstwerken zurückbeugt auf die intensivierte Erzeugung von Künstlern, die befähigt werden, Kunstwerke von ständig erhöhter Artifizialität hervorzubringen. Die Rückkopplung bewirkt eine aufsteigende Spirale
entgrenzter Virtuosität, bis eine liminale Zone nicht weiter steigerbarer Meisterschaft erreicht ist. So entsteht der virtuose Zirkel, in dem sich die neuzeitliche Kunst glücklich bewegte, solange sie wesensmäßig
Virtuosenkunst war.
Mit der Zäsur der Moderne werden im Bereich der bildenden Künste die erreichten Standards außer Kraft gesetzt und als “akademische” Hemmnisse
kreativer Freiheiten verspottet. An die Stelle des selbstverstärkenden Könnens-Kreises tritt ein Regime selbstverstärkender Regelverletzungen, ja eine Meta-Regel der selbstverstärkenden Abweichungen vom Erwarteten,
bis hin zur mutwilligen Unterbietung aller Erwartungen an das artistische Wesen der Kunst. Seither operiert das Pop-Segment des modernen Kunstbetriebs offensiv auf der Abfall-Stufe, als sollte die Doktrin eingeübt
werden, nur das, was weniger als Kunst ist, könne noch wirkliche Kunst, ja mehr als Kunst sein.>
(Aus: Peter Sloterdijk - Die schrecklichen Kinder der Neuzeit, Suhrkamp Berlin 2014; hier: Lizenzausgabe der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft, S.198)
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