12.02.06
Die Spießer-Demokratie
(oder die Demokratie-Verhinderungs-Demokratie)
Ich bin gerade dabei, wieder einmal die 68er Schrift von Agnoli „Die Transformation der Demokratie“ zu studieren. (Siehe auch weiter unten noch mal dazu). Diese 80-Seiten-Broschüre enthält eine Menge überraschend guter Einsichten in die Realität „unserer“ Demokratie. Allerdings hat sie einen Hauptnachteil: Sie baut zu sehr auf dem eingeschränkten klassischen Sozialistenparadigma von Oligarchien und Klassengesellschaft auf. So, wie wenn die höheren Schichten den Rest der Gesellschaft an der Strippe hätten wie ein Kasperltheater. Meiner Ansicht nach ist die Wirklichkeit jedoch komplexer. Die ganze Gesellschaft ist durchseucht von Entfremdung im Sinne von Lieblosigkeit, Destruktivität, Arroganz, Spießertum. Insofern ist nicht einfach nur die „soziale Frage“ der „Grundantagonismus“ der Gesellschaft sondern es gibt noch einige weitere Antagonismen. Und die moderne „Demokratie“ ist mit Hilfe der von Agnoli aufgezeigten Tricks bemüht, nicht nur den einen Antagonismus unter den Teppich zu kehren sondern nach Möglichkeit alle, um dadurch der negativen Seite der Antagonismen zusätzlich Oberwasser zu geben.
Welche Antagonismen gibt es überhaupt?
1. Schutz der ökologischen Biosphäre vs. rücksichtslose Destruktion der Biosphäre (z.B. Klimawandel, Urwaldzerstörung, Bau von
Atomkraftwerken).
2. Schutz und Ausweitung der ästhetischen Lebenssphäre der Menschen vs. gnadenlose Zerstörung der letzten Reste
ästhetischer Lebenssphären in Städten und Landschaften und Ausweitung der Häßlichkeit (z.B. Sinfonien in Beton, Bebauung schöner Gegenden, Straßenverkehr ohne Ende).
3. Erhaltung und Erweiterung der juristischen Knebelung der Menschen vs. Freiheitsräume der Menschen erhalten und erweitern
(z.B. Jagd auf Drogensünder, Verbot Vitamin A frei in Apotheken zu verkaufen, Verbot des heimlichen Vaterschaftstests durch einen Ehemann „Schlampenschutzgesetz“, Bauvorschriften ohne Ende, maßloser und
äußerst restriktiver Schutz geistiger Urheberschaft).
4. Freiheit der Information und Meinungsäußerung vs. Knebelung der Meinungsäußerung (bspw. durch angebliche
Persönlichkeitsrechte von Leuten, die in Romanen auftauchen, Hetzkampagnen in den Medien (z.B. Fall Möllemann)) und Knebelung der Informationsfreiheit (bspw. durch Konzentration der Presse, Kastration der
Leserbriefe, maßloser und äußerst restriktiver Schutz geistiger Urheberschaft).
5. Privilegierte Leute schützen und verteidigen gegenüber deren Opfern vs. Gerechtigkeit (z.B. nach Trennung Kinder den Vätern
vorenthalten und die Mütter einseitig juristisch bevorzugen).
6. Den sowieso schon schwach Betuchten in Krisenzeiten möglichst viel wegnehmen und die Reichen noch reicher machen vs. sozialer
Ausgleich der Interessen möglichst nicht auf Kosten der sowieso schon Armen (z.B. Krankenkassenleistungen verkürzen, Lohnkürzungen, Erhöhung der Arbeitszeit, Rentenkürzung, Erhöhung des Rentenalters, Verringerung
des Arbeitslosengeldes, Verringerung des Steuersatzes für Firmen, Verringerung der Sozialabgaben durch Firmen, Beseitigung der Vermögenssteuer)
7. Mitreden und Mitentscheiden können vs. Außenvorhalten und Unterdrückung kreativer Leute und sinnvoller Kritik (z.B. in Bezug
auf städtebauliche Planungen, diverse Gesetzesinitiativen, innerbetriebliche Regulierungen).
8. Korrekte Staatsmoral vs. staatlicher Begünstigung von bourgeoisem Egoismus.
Im Prinzip kann man sagen, daß bei diesen 8 Antagonismus-Punkten meistens die negative Seite die Oberhand hat. Ausnahme bilden
die Konsumentenrechte bzgl. 5. So z.B. hat ein Münchener Gericht kürzlich gegen den Verfall der Prepaid Handy-Guthaben nach einem Jahr einen Gerichtsbeschluß gefasst. Aber bis es zu solchen juristischen Änderungen kommt, ist in der Regel schon viel zu viel an Abzockerei geschehen! Man denke nur an die jahrelange Geschichte mit den 0190-Rufnummern.
Daß in der Regel die negative Seite der 8 genannten Antagonismen die Oberhand hat, wirft ein bezeichnendes Licht auf
„unsere“ Demokratie. In ihr bestehen die Entscheidungsträger (in Verwaltungen, Parlamenten, Gerichten und den diversen halboffiziellen Instanzen – von Ärzten über Betrieben bis Zeitungen) offenbar
hauptsächlich aus negativistischen Leuten („Spießern“). Da dies der Fall ist, lassen die sich auch ungern in die Karten gucken bzw. laden keineswegs gerne kreative und positiv denkende kritische Menschen dazu
ein, die Entscheidungen zu begutachten, und neue, verbesserte Entscheidungen vorzuschlagen. Entsprechend statistisch-hermetisch (immer öfter auch direkt gewaltsam, vgl. z.B. RIAA) abgeriegelt ist die Freiheit der Information und der Meinungsäußerung (vgl. z.B. die Berichterstattung über den Krieg im Irak).
In den einzelnen Rubriken soll nun theoretisches und empirisches Material zu den diversen Antagonismus-Punkten aufgelistet
werden.
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Hier noch einige Links, von Websites, die auf je eigene Weise die hier aufgezeigten Thematiken (zumindest teilweise) ebenfalls behandeln. Ich identifiziere mich keineswegs mit all den dort aufgeführten Artikeln und Meinungen!
Über die “Amigo- und Heuschrecken Republik” kann man etliche interessante Artikel und Hinweise in der Internet-Publikation GIPT finden, speziell in der Abteilung Politische Psychologie.
Auf den Seiten von http://www.das-gibts-doch-nicht.de/ [Die Website ist spätestens seit 2017 leider geschlossen]. kann man vielerlei Nachrichten und Ansichten finden, die man üblicherweise in den offiziösen Medien nicht findet.
An dem kritischen SPD-Ökonomen Albrecht Müller und seinem Umfeld orientiert ist die Webseite http://www.nachdenkseiten.de/
Beispielsweise heißt ein Buch von Albrecht Müller (März 2006):
Machtwahn. Wie eine mittelmäßige Führungselite uns zugrunde richtet. Droemer, München, 365 Seiten, 19,99 €
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Hier noch einmal zu dem speziellen Buch-Hinweis vom Anfang:
Agnoli: Die Transformation der Demokratie (1968)

Agnolis Broschüre (eine Raubkopie von 68), erinnert mich an Orwell’s 1984. Dort bekommt der Dissident Smith
auch eine Schrift in die Hand, die ihm das System entlarvt (das revolutionäre Buch von Goldstein, allerdings selber wieder von der Partei verfaßt).
Agnolis Text von 1967 ist sozusagen mit Flammenschrift geschrieben.
Selbst wenn man sein eingeschränktes (klassisch sozialistisches) Oligarchie- bzw. Klassenparadigma ersetzt durch das verallgemeinerte Paradigma Entfremdung (im Sinne von: Destruktivität, Lieblosigkeit, Spießigkeit, Arroganz usw.)
, was meines Ermessens besser ist, da die Oligarchie- bzw. Klassengesellschaft nur ein wichtiger, weil stabilisierender Teil dieser Entfremdung
ist, aber eben nur ein Teil - vermutlich kann man darüber streiten, was zuerst kommt - , so hat man dennoch interessante Ansätze einer Analyse der modernen Demokratiewirklichkeit - bei der auch
gleichzeitig deutlich wird, warum solch eine kritische Analyse nicht im Geringsten ins allgemeine Bewußtsein einer manipulierten Gesellschaft
gehört. Das Merkwürdigste an dieser Analyse ist, daß sie nach fast 40 Jahren immer noch in vielerlei Hinsicht aktuell ist. - Man hat das Gefühl
wie bei vieler Musik dieser Zeit (z.B. Beatles): Es ist eine Art “Gnade Gottes”, die hier über dem Autor waltete.
Da eine Kopie der Schrift Agnolis gegen das Urheberrecht verstößt, darf
ich sie leider nicht in dieser Website veröffentlichen, so gern ich mir sogar die Arbeit des OCR-Digitalisierens machen würde. Eine
Kurzdarstellung der Ideen Agnolis, findet sich bei GLASNOST. Es handelt sich um einen Aufsatz Agnolis, vermutlich ebenfalls von 1968, für
den ‘Republikanischen Club’ (Berlin).
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