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24.03.10

 

Argumentationskunst - Teil 4

 

Warum überhaupt Argumentation?

 

1. Doppelbedeutung von Argumentation: Diskutieren vs. einsame Begründung

 

Es ist festzustellen, daß Argumentation eine Doppelbedeutung hat, nämlich eine kommunikative und eine reine Begründungs-Bedeutung. Bei der kommunikativen Bedeutung argumentieren Leute miteinander, sie diskutieren und  debattieren,  um dabei zu einem Konsens oder Dissens zu kommen: Es gibt Behauptungen und Gegenbehauptungen, Begründungen und Zweifel an den Begründungen. Und dies in einem (dialektischen) Hin- und Her.

Zwar kann beides relativ weit  auseinanderliegen, wenn man einen argumentativen Text schreibt, doch setzt man dann die Rolle des Gegenüber durch Zitate und Belege oder auch durch seine Lebenserfahrung in sich selber ein. Anders ausgedrückt: Man setzt sich beim argumentativen Schreiben mit einem relevanten generalized other (Mead) auseinander.

 

Dann aber jedoch die zweite Bedeutung: „Die Argumentation (Beweisführung, Begründung) des Autors läuft folgendermaßen: … “  - und jetzt folgt eine reine Darlegung von Begründung oder Beweisführung. Keineswegs ein kommunikativer Vorgang nach Art einer Diskussion oder Debatte.

 

Dennoch halte ich es für keinen Zufall, daß beide Bedeutungen (kommunikativ vs. begründend), zumindest in den wichtigsten Fällen, zusammengehören.

 

Ich denke, man muß unterscheiden, in welchem Kontext sich das jeweils bewegt. Eine grundlegende Unterscheidung bildet meiner Ansicht nach, ob das Gebiet, das mich beschäftigt, mir bekannt ist und jede Menge Gewißheiten beinhaltet – wie paradigmatisch die entwickelte Geometrie von Euklid. Dann ‚demonstriere’ ich beispielsweise den Satz des Pythagoras als Beweisführung. Dazu brauche ich keine Diskussion und keine Debatte, ob das im Einzelnen überhaupt stimmt, was ich für den Beweis benutze, denn es handelt sich sowieso um lauter Gewißheiten. Es kann höchstens noch jemand daherkommen und sagen: „Der Beweis ist trotzdem leider falsch“. Dann muß er den Fehler aufzeigen. Erst dann könnte – und sollte -  sich tatsächlich eine Debatte ergeben. Aber normalerweise dürften sich bei der Demonstration einer der vielen Pythagoras-Beweise keine großen Debatten ergeben, sofern man sich in Geometrie auskennt. – Das gleiche gilt, wenn einer ganz privatistisch eine Zählung aller roten Sandkörner in einem speziellen Flußdelta bewerkstelligen will  und dabei statistische Methoden benutzt. Bei dieser Beweisführung gibt’s vermutlich genausowenig zu diskutieren, sofern man sich in Statistik auskennt.

 

Anders sieht es aus, wenn das Gebiet, das mich beschäftigt, mir zwar (halbwegs) bekannt ist, aber dennoch jede Menge Ungewißheit beinhaltet, wie dies beispielsweise oft genug im Alltag, in der Politik, bei der Interpretation eines schwierigen Textes oder in der Kriminalistik der Fall ist. Selten wird ein Kriminalbeamter nach Art des Euklid  nach Inspektion des Tatortes einige Zeit später aufgrund etwa von ‘genetischem Fingerabdruck’ und sonstigen Spuren beweisend deduzieren können: „Der Täter war ganz eindeutig der Gärtner Franz Xaver Bernhard aus dem Ötzbachtal!“. Stattdessen ist er meistens gezwungen, erst mal Vermutungen, also Hypothesen aufzustellen und zu versuchen, dafür Begründungen zu liefern.

 

2. Unterscheidung zwischen Beweis und Begründung

 

Insofern mache ich persönlich hier gerne die Unterscheidung zwischen ‘Beweis’ und ‘Begründung’: Ein Beweis einer Behauptung kann nach dieser meiner Definition nur auf einem Gebiet der vorgegebenen Gewißheiten (Paradigmatisch: die Geometrie Euklids) stattfinden. D.h. alle meine allgemeinen Aussagen (Gesetzmäßigkeiten), die mit dem Gegebenen geschickt in Zusammenhang gebracht werden, sind schon als sichere, 100%ige Gesetzmäßigkeiten (über Flächeninhalte, Rechtecke, Quadrate, Parallelelogramme, Dreiecke, Strahlensätze, Winkel usw.) vorhanden. Ich brauche sie (für den Satz des Pythagoras beispielsweise) nur noch wie ein Puzzle mit dem Gegebenen (Dreieck unter der Voraussetzung der Rechtwinkligkeit) zusammenzufügen, und ich habe einen 100%ig sicheren Beweis eines neuen allgemeinen Satzes: “hier, das ist der Satz des Pythagoras!” Natürlich ist diese Puzzle-Geschichte beim Beweis keineswegs zu unterschätzen - auch welche Gesetzmäßigkeiten überhaupt ins Spiel kommen sollen. Die Sache ist insofern - mit allen ihren phantastischen Tricks - ungeheuer lehrreich und in jedem Fall eine gute Übung für den Argumentierenden - z.B. hier. Dass die Mathematik ein wichtiges Propädeutikum für die “Einübung in die Vernunftlehre” ist, hat in der Aufklärungszeit 1713 Christian Freyherr von Wolff in dem Vorwort seiner Einführung in die Mathematik sehr schön ausgeführt: Siehe hier.

Eine Begründung einer Behauptung (also noch kein Beweis im eigentlichen Sinne) findet statt bei Ungewißheit meines Ergebnisses und/oder meiner Gesetzmäßigkeiten - also dort, wo meine Gesetzmäßigkeiten (selbst wenn sie als gesichert gelten, was keineswegs die Regel ist), die ich zur Begründung mit meiner Voraussetzung zusammenpuzzle, dennoch nicht meine Behauptung 100%ig beweisen. Deshalb suche ich nun weitere Belege. Was ich hier jeweils zusammenpuzzle als Begründung für meine hypothetische Behauptung ist bestenfalls lediglich plausibel - also keinesfalls vom Rang eines echten 100%igen Beweises.

- Wer hierbei einen scheelen Blick auf Begründungen im Gegensatz zu richtigen Beweisen hat, der sollte sich vielleicht in einer stillen Stunde klar machen, daß auch die solidesten Sachen, wie die Geometrie und die Physik, ursprünglich mal ganz klein als Vermutungen und Hypothesen angefangen haben.

Desweiteren würde ich, um der didaktischen Klarheit willen, das bekannte Schulschema: Voraussetzung->Behauptung->Beweis etwas anders formulieren: Das Gegebene (unter gewissen speziellen Voraussetzungen) -> Behauptung -> Gesetzmäßigkeiten (die mit dem Gegebenen und seinen Voraussetzungen in Bezug gesetzt werden) -> Beweis (bzw. Begründung). (Siehe dazu als Exempel den Torricelli-Beweis).

Man sollte hier insbesondere beachten, daß der Begriff ‘Voraussetzung’ als Fachbegriff manchmal generell mit dem Gegebenen identifiziert wird (wie das bei dem bekannten Schulschema der Fall ist), was meiner Ansicht nach verwirrend ist, da der Fachbegriff ‘Voraussetzung’ in der Mathematik durchaus auch im Sinne einer besonderen, speziellen Eingrenzung eines übergeordneten Sachverhaltes angesehen wird. Z.B. “Ein achsensymmetrisches Viereck mit einem 90° -Winkel”, wobei der 90◦ -Winkel hier die ‘Voraussetzung’ im Sinne einer speziellen Eingrenzung (Spezialisierung) des gegebenen achsensymmetrischen Vierecks ist.

Desweiteren wird bei dem Schulschema das Wichtigste unterschlagen, nämlich die ‘Gesetzmäßigkeiten’, die mit dem Gegebenen und seinen speziellen Voraussetzungen in Verbindung gebracht werden (‘vermittelt’ werden, um es einmal hegelianisch auszudrücken).

 

3. Beispiele von Begründungen

 

1. Beispiel - gesicherte Gesetzmäßigkeit: Der Kriminalbeamte (Hoffer) hat als Gegebenes einen Toten, sowie als spezielle Voraussetzungen diverse Spuren. Er behauptet nun: Es war Mord und kein Unfall oder Selbstmord. Anhand der Spurenlage erkennt er, zusammen mit einem Gerichtsmediziner (Dr. Kolmaar), Gewalteinwirkungen x,y,z. Die Gesetzmäßigkeit, die er nun in seiner Begründung für seine Behauptung, daß es Mord sei, anwendet, lautet demgemäß: Bei Gewalteinwirkungen der Art x,y,z kommt ganz sicher nur ein anderer Täter in Frage. Dafür gibt es medizinische, physikalische und was weiß ich für gesicherte Gründe. Aus diesen Gründen ist es mit Sicherheit ein Täter gewesen und deswegen wahrscheinlich ein Mordfall. (Bei meinem letzten Krimi war übrigens der Täter ein Rehbock und deshalb war es kein Mordfall im Sinne des Morddezernats).

Wie man vielleicht erkennt, nähert sich die Begründung, im Maße der Sicherheit der für die Begründung der Behauptung benutzten Gesetzmäßigkeit, dem Beweis.

2. Beispiel - ungesicherte (lediglich wahrscheinliche) Gesetzmäßigkeit: Der Kriminalbeamte hat als Gegebenes mehrere Tote, die am Strand angespült werden: Es sind 3 junge Frauen, die jeweils an einen Stein gefesselt wurden und offenbar vorher gequält und vergewaltigt wurden. Eine Mutter und ihre zwei jugendlichen Töchter, die in Florida Urlaub machten. Der Tatzeitpunkt konnte relativ genau eingegrenzt werden. Es gab auch sonst noch einiges Wissen zu dem Fall, was ebenfalls zu den speziellen Voraussetzungen des Gegebenen zu zählen ist. Man hatte jedoch keinen Anhaltspunkt für den/die Mörder. Alle verfolgten Möglichkeiten, die sich aus dem bisherigen Wissen ergaben, verliefen im Sand. Nach etlichen Jahren wird der Fall aufs neue untersucht. Jetzt finden sich Spuren, die bislang nicht beachtet wurden: vor allem eine Handschrift, die möglicherweise auf den Täter hinweist. Auch ein Phantombild von einem Mann, der eine Kanadierin auf seiner Yacht vergewaltigte - zu der damaligen Zeit. Als der ehemalige Schreiber jener Handschrift (der tatsächlich dem Phantombild ähnelte) ausgemacht wurde, leugnet der die Tat. Er ist Familienvater und Bauunternehmer. Man hatte jetzt auch eine frühere Yacht von ihm ausfindig gemacht, die er zum Todeszeitpunkt der Frauen besessen hat, und diese Yacht wurde von Sachverständigen der Kripo genauestens in Augenschein genommen. Doch war der Verdächtige auch mit der Yacht zur fraglichen Zeit auf dem Meer? Mit Hilfe von Rückverfolgung von Telefonanrufen konnte man das klären. Er war tatsächlich zu dieser Zeit auf dem Meer. Er wurde nun gefragt, was er so lange (zwei Tage und Nächte) auf dem Meer gemacht habe? Er erzählte eine Story von einer kaputten Benzinleitung seiner Yacht, die er reparieren mußte. Er wurde gefragt, welche Benzinleitung und wo. Er nannte einen bestimmten Ort auf der Yacht, wo sich jene defekte Leitung befand. Doch konnte gezeigt werden, daß es jene Benzinleitung gar nicht gab auf dem betreffenden Schiff. - Aufgrund dieser Indizien wurde er als Täter verurteilt. - Die Gesetzmäßigkeit, die hier, bei jenem ‘Indizienprozeß’ angewendet wurde, lautet ungefähr so: Für den Angeklagten treffen diverse Vorbedingungen zu: die handschriftliche Notiz zeigte,  er hatte mit den Frauen zu tun, was er auch zugab. Womöglich war er auch der Vergewaltiger jener Kanadierin. Er war zum fraglichen Tatzeitpunkt mit seiner Yacht auf dem Meer. Seine Begründung, warum er so lange auf dem Meer war, war haltlos. All das zusammengenommen macht es (in seiner hohen Seltenheit eines rein zufälligen Zusammentreffens) sehr wahrscheinlich, daß er der Täter war. - Die Gesetzmäßigkeit war also nicht als solche extrem gut gesichert (wie oben im 1. Fall  bei Dr. Kolmaar) sondern es handelte sich lediglich um hohe Plausibilität. Die Behauptung, daß jener Yachtbesitzer der Mörder sei, konnte zwar ziemlich haltbar begründet werden, aber lediglich im Sinne von hoher Wahrscheinlichkeit.

3. Beispiel - ziemlich ungesicherte, lediglich hypothetische (versuchsweise, vermutete, spekulative) Gesetzmäßigkeit: Mich interessierte schon immer die Frage: Was ist eigentlich mit den Formalisten in der Mathematik und/oder den ‚Dunkelmännern’ in der Philosophie, die sich nicht verständlich mitteilen? Dazu erfand ich kürzlich die folgende Hypothese: Sollte das etwa auf prinzipieller Argumentationsunfähigkeit (fundamentale AUF) beruhen? - Der fundamentale AUF (Argumentationsunfähige) ist nach einer anderen meiner Hypothesen jemand, der ein Defizit aus seiner Kindheit hat. (Achtung, jetzt kommt die erste hypothetische Gesetzmäßigkeit:) Ihm wurde von seinen Eltern überheblicherweise nicht zugehört. Das Kind hat somit selber nicht gelernt, ernsthaft zuzuhören. Es geht auch nicht davon aus, daß ihm selber ernsthaft zugehört wird. Also teilt es sich auch nicht entsprechend mit. Es bleibt einerseits einsam in seiner Mitteilung (hört nur sich selber in sich bei der Mitteilung, nicht auch den Anderen) und es bleibt andererseits einsam im Zuhören (hört ebenfalls nur sich selber beim Zuhören, seine unkontrollierten Phantasien, und nicht auch wirklich in sich den eventuell zu Recht kritischen Anderen). Was wir jedoch bei der Argumentation grundsätzlich voraussetzen ist, daß man wie ein Luchs möglichst genau zuhören können muß, was der Andere sagt, um ihn notfalls möglichst genau zu zitieren, zu widerlegen, zu ergänzen oder zu unterstützen. – Was wir noch voraussetzen bei der Argumentation ist, daß sich der Argumentierende (innerlich) an ein spezifisch aufnahmebereites Gegenüber wendet. Er geht also grundsätzlich davon aus, daß ihm ernsthaft  zugehört wird – und versucht sich entsprechend verständlich zu machen, damit er möglichst nicht mißverstanden wird. Beide Eigenschaften kann jedoch der im dialogischen Zuhören geschädigte Mensch gar nicht mitbringen. – Er ist also notwendigerweise von vornherein, per mißglückter Sozialisation, unfähig zu argumentieren. Dies ist die Form des fundamentalen AUF - also nicht des zufälligen AUF, der zwar zuhören kann, aber nicht die Kunst des Argumentierens beherrscht, sie aber eigentlich jederzeit erlernen könnte. (Zweite vermutete Gesetzmäßigkeit:) Der fundamentale AUF kann vermutlich niemals die Kunst der Argumentation wirklich beherrschen, selbst wenn ihm noch so sehr die formalen Regeln klar gemacht wurden. - Auf der Basis dieser hypothetischen Gesetzmäßigkeit generell zur Erklärung dessen, was einen Fundi-AUF definiert, kann man die nächste speziellere Hypothese hinterher schieben: Sind Formalisten der Mathematik (mit ihren dürren undidaktischen Formeln, auf die sie die Mathematik gerne herunterwirtschaften wollen) oder auch ‘Dunkelmänner’ in der Philosophie (wie beispielsweise Heidegger, Hegel, Luhmann) ebensolche kindheitlich geschädigten Fundi-AUF’s?

 

4. Der kommunikative Aspekt von Argumentation

 

Die ungesicherte, lediglich mehr oder minder plausible, oder gar hypothetische Gesetzmäßigkeit ist bei der Argumentation das Übliche.

Hier, bei der Ungewißheit, ist der Punkt, wo der kommunikative Aspekt der Argumentation zum Zug kommt. Das Stichwort dafür ist der Spruch: „Vier Augen sehen mehr als zwei!“. Der einzelne Mensch ist beschränkt und außerdem selbstverliebt in seine Erkenntnisse d.i. eitel,  und deswegen konservativ. Das gilt auch für die einzelne Gruppe. Deswegen ist es gut, wenn man sich zum kritischen Dialog bereit findet. Der Verlust, den die Eitelkeit scheinbar erleidet, wird zehnmal wettgemacht durch den Gewinn an (gemeinsamer) Erkenntnis, und damit an verbesserter Handlung, der durch die gegenseitige Kritik, durch den (ehrlichen) Dialog ermöglicht wird.

 

Die Metaebene, die das empirische Ich der individuellen Eitelkeit transzendiert, ist meiner Ansicht nach die eigentliche Geburtsstunde der (argumentativen) Philosophie, sowohl individuell als auch historisch: Das wahre, philosophische Ich ist nicht das jeweils empirisch gegebene eitle Meinungs-Ich, sondern das kritische Meta-Ebenen-Ich, welches das vorhergehende eitle Meinungs-Ich (an welchem die meisten Menschen platt hängenbleiben) nur als Durchgangsphase zur wahren Erkenntnis betrachtet. – Und dazu ist Dialog und gegenseitige Kritik nötig - und last not least die Fähigkeit zur Begründung.

 

Mit anderen Worten: in den Fällen von Erkenntnis unter Ungewißheit, das womit wir in den interessantesten Fällen bei der Argumentation zu tun haben, in denen es ja typischerweise notgedrungen zunächst nur um Vermutungen und Hypothesen geht (was man übrigens in kritischen Fällen immer klar bekennen sollte), ist es erfahrungsgemäß von großem Vorteil, wenn man in Dialog tritt mit Leuten, die einem relevant Zunder gegenüber den eigenen eingefrorenen und/oder halbgaren Ansichten geben können. Jeder wache Mensch hat andere Perspektiven, jeder hat andere Lebenserfahrungen, jeder hat anderes gelesen, jeder hat andere Stärken und Schwächen. Mindestens genauso wichtig ist es übrigens, daß man selber gekonnt Zunder geben kann, um was rauszukriegen. Man bombardiert dadurch gewissermaßen eine Struktur heraus. Das alles setzt voraus, daß man bereit ist, liebgewonnene eigene Ansichten aufzugeben, sofern sich gute Gründe dafür zeigen.

Man sieht endlich die Rolle der Gründe im Rahmen der kommunikativen Argumentation. Hier gehört tatsächlich beides untrennbar miteinander zusammen: die Gespräche und die Begründung. Und deswegen ist die eingangs angesprochene Doppelbedeutung von Argumentation, einerseits als Kommunikation andererseits auch als Begründung, kein reiner Zufall, insofern man als philosophischer Kopf unter der üblichen Ungewißheit (d.h. bei mangelhaftem Wissen) sinnvollerweise mit jemandem zusammen ein Problem angeht, der ernsthaft, d.i. begründet, was dazu zu sagen hat, der zumindest relevante Gegenbehauptungen und entsprechende Hypothesen aufstellen kann.

 

5. Die Rolle der Kritik bzgl. persönlicher Veränderung

 

Malte W. Ecker (Kritisch argumentieren, Alibri-Verlag, Aschaffenburg 2006)  betont, daß es einen positiven Grund für Kritik gibt:

    <Es gibt tatsächlich einen positiven Grund für Kritik, und dieser Grund ist so entscheidend, daß er die negativen Aspekte sogar aufwiegen kann: Kritik und Zweifel sind die einzig wirkliche Chance für Verbesserungen. Gerade weil niemand freiwillig von den ausgetretenen und bequemen Pfaden der tatsächlichen oder auch nur scheinbaren Gewissheiten im Denken und Handeln abweichen würde, braucht es einen Impuls, Verbesserungsmöglichkeiten zumindest probeweise auch wahrzunehmen. Genau das ist Kritik. Kritik heißt: daran zweifeln, daß alles gut und richtig ist, wie es ist.> (S. 44)

So schön und gut diese Sätze klingen, und vielleicht sogar gemeint sind: Was der Autor hier leider versäumt zu betonen, ist der folgende, meiner Ansicht nach äußerst wichtige Punkt:

Man kann Menschen persönlich verletzen, wenn man sie negativ etikettiert. – Jemand, der eine Schulnote 5 bekommt, ist in der Regel nicht besonders glücklich darüber. Was daran schlimm wäre ist, wenn diese Etikettierung nicht wirklich haltbar ist – d.h. in dem Beispiel, wenn die Note 5 nicht gerechtfertigt ist (z.B. weil der Lehrer das tatsächliche positive Können des Schülers nicht berücksichtigt, oder auch seine eigene didaktische Unfähigkeit nicht erkennt). Deswegen sollte, meiner Ansicht nach, Kritik möglichst gut begründet sein und die Begründung auch rundum haltbar sein, damit sie eine echte Chance hat, gerecht zu sein. Persönliche Kritik einfach so, ohne jene Einschränkung der wirklich haltbaren Begründung, ist meiner Erfahrung nach mehr oder minder problematisch – bis hin zum bösartigen Vorurteil.

 

6. Die humanisierende Rolle von Argumentation

 

Zum Abschluß noch ein paar Sätze über den humanisierenden Aspekt von dialogischer Argumentation. Dazu gibt es eine interessante Formulierung von Nida Rümelin:

    “Im Unterschied zum main stream in der Philosophie identifiziert Nida-Rümelin Personen nicht mit deren Wünschen, sondern mit den Gründen, die sie leiten. Gründe geben und nehmen heißt nichts anderes als sich wechselseitig als verantwortliche Akteure sehen.” (Peter Moser in seinem Bericht über den XXI. Deutschen Kongress für Philosophie “Lebenswelt und Wissenschaft”. In der Zeitschrift “Information Philosophie” Dezember 2008, S.113 f.)

Im Falle daß zwei Menschen (beispielsweise Mann & Frau oder zwei Freunde), ernsthaft willens sind, ihre Meinungsverschiedenheiten, auch ihre ernsthaften Diskrepanzen, mit Hilfe von ehrlicher Argumentation zu lösen, ergeben sich interessante Konstellationen, die dem Otto- bzw. der Erna-Normalverbraucher unbekannt sind.

Erstens ergibt sich eine ganz eigene Logik der Gesprächsführung, wie sie von Van Eemeren und Grootendorst in ihren 10 “Commandments” (A Systematic Theory of Argumentation, Cambridge 2004, S.187 ff.) auf den Begriff gebracht wurden. Siehe dazu auch “Spielregeln der Argumentation”  3.Teil auf dieser Website. Wenn man diese Spielregeln befolgt, kommt man zu den denkbar besten Problemlösungen - unter den gegebenen Wissensvoraussetzungen, die die beiden Partner mitbringen. Hat man allerdings gemeinsam schlechte oder gar falsche Wissensvoraussetzungen (etwa als selbstverständlich vorausgesetzte haltlose, unbewußte, ungeprüfte Annahmen und/oder Theorien), so kann auch der beste Diskurs im Endergebnis nur entsprechende Resultate liefern. Deswegen ist es an sich notwendig, daß man auch einen gemeinsamen kritischen Blick auf die verwendeten (expliziten und impliziten) Annahmen und Theorien hat.

Zweitens ergibt sich ein Geben und Nehmen im Austausch der sinnvollen Argumente. Im Gegensatz zu den üblichen Nullsummen-Streitereien von Otto- und Erna Normalverbraucher (der Gewinn des Einen ist der Verlust der Anderen und umgekehrt) gibt es bei jenem produktiven Austausch von Argumenten und Gegenargumenten im Sinne jener 10 Commandments nur Gewinner. Was der Eine besser weiß als der Andere, wird vom Anderen als förderlich angesehen und dient im Endeffekt beiden. Diese spezifisch humane Art des Umgangs miteinander mit Hilfe von ehrlicher Argumentation ist meiner Ansicht nach der Kern der Sache in dem obigen Zitat:

    “Gründe geben und nehmen heißt nichts anderes als sich wechselseitig als verantwortliche Akteure zu sehen.”

Wer keine Gründe für seine Ansichten vorbringt oder bei entscheidenden Diskrepanzen prinzipiell nur haltloses Zeug von sich gibt, kann eben nicht von seinem Gegenüber als verantwortlicher Akteur angesehen werden. Es ist jemand womöglich Spielball unbewußter psychischer Prozesse, über die er/sie keine Verfügungsgewalt mit Hilfe von freundschaftlicher Diskussion herstellen kann bzw. will.

 

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Zum Kapitel (5) - Fehlerhafte Argumentation (‘fallacies’)

 

 

 

 

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