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(5) Fehlerhafte Argumentation

 

02.06.10

 

Fehlerhafte Argumentation - bzw. fehlerhafte Argumente (‘fallacies’)

 

Es geht hier nicht um die ideologische Argumentation, die im Sinne der Wahrhaftigkeit zwar an sich systematisch falsch ist, aber für sich  - pragmatisch gesehen - nicht fehlerhaft ist: Sie will ja mit dieser Falschheit ein reales Ziel erreichen, nämlich ein bestimmtes autoritäres Verhältnis in der gegebenen Situation durchsetzen.

 

Nein, hier geht es hauptsächlich um Fehler, die eher aus Unkenntnis und entsprechender Unachtsamkeit geschehen, also sozusagen um echte Fehler, Fehler aus argumentativer Ungebildetheit bzw. Unfähigkeit. Es kann allerdings gewisse Grenzüberschreitungen hin zum Ideologischen geben, das läßt sich nicht ausschließen, da ja Ideologie als notwendige Voraussetzung die Fehlargumentation hat.

 

Da ich es bevorzuge, empirisch, gemäß meiner eigenen Erfahrungen, vorzugehen und nicht lediglich versuchen will,  klassische Lehrbuchweisheiten anzuwenden (wie das üblicherweise im US-Universitäts-Bereich bei den „Fallacies“ geschieht, was durchaus eine beneidenswert hohe Kultur dort hat), so gebe ich erst einmal einige (unsystematische) Beispiele.

 

 

    „Zum Punkt X. Du schreibst, es handelt sich da um Y. Mir ist schleierhaft, wieso es sich bei X schwupps-di-bupps um Y handelt. („Es handelt sich da…“). Gibt es hier eine Verbindung und wenn ja, wo besteht hier genau die Verbindung, und was trägt dieselbe zu unserem Thema bei?“

In normalen Small-Talk Unterhaltungen muß es nicht darauf ankommen, daß jemand auf diese Weise zu einem völlig neuen Thema überleitet. Ich nenne dies ‘Apropos-Gespräche’. Nicht so jedoch im Rahmen einer ernsthaften Argumentation. Hier muß man auch wirklich beim Thema bleiben, wenn man mit so einer Formulierung überleitet. Ansonsten wäre dies eine fehlerhafte Argumentation, denn entweder handelt es sich tatsächlich darum oder eben nicht. Wenn es sich nicht drum handelt, ist das Thema verfehlt, es handelt sich um einen irrelevanten Beitrag. Das haben Van Eemeren und Grotendorst in ihrem “Commandment 4” folgendermaßen ausgedrückt:

    “Standpoints may not be defended by ... argumentation that is not relevant to the standpoint.” und in ihrem Kommentar heißt es: “...but pertain [gehören] to some other standpoint that is not at issue [zur Debatte stehend].” (A Systematic Theory of Argumentation, Cambridge 2004, S.192)

 

 

    „Vieles deutet darauf hin“ [oder alternativ: “Vieles spricht dagegen”].

Diese Behauptung wird manchmal verwandt, um ein Thema oder jemanden mit einer unliebsamen Ansicht in die Schranken zu weisen. Wenn jedoch Einer so etwas sagt oder schreibt, ist er verpflichtet, wenigstens zwei, besser noch drei, echte Beispiele zu bringen dafür, was denn von dem “Vielen” tatsächlich darauf hindeutet. Wenn jemand sagen würde: „Manches deutet darauf hin“, würde nach meinem Ermessen auch schon ein einziges Beispiel, besser natürlich zwei, reichen. – Überhaupt sind Mengen-Aussagen (speziell All-Aussagen) dahin zu überprüfen, inwieweit sie gerechtfertigt sind. Schon allein die Tatsache, daß man sie gegenüber ernstzunehmenden Leuten, einem ernstzunehmenden Forum, das mich auch selbst ernst nehmen soll, rechtfertigen können müßte, sollte einen dazu zwingen, hier ganz genau acht zu passen, daß man keinen Mist erzählt. Denn jeder [das ist übrigens eine Allaussage!] übertreibt anfangs gerne, das ist, glaube ich, eine typische menschliche Vorgehensweise. Ich will es noch nicht mal ‚Schwäche’ nennen: es ist einfach die ursprüngliche, erste Hypothese, die jemand hat. Doch dann sollte er sich in Anbetracht seiner Rechtfertigungspflicht, wenn er ernstgenommen werden will, unbedingt zügeln und sich korrigieren und möglichst nur das Aussagbare aussagen, nicht mehr und nicht weniger. - Wenn also Einer gar keine Beispiele bringen kann, aber dennoch den Mund voll nimmt und sagt “Vieles deutet darauf hin”, so ist das eine fehlerhafte Argumentation. Wer so großmäulig verfährt, den braucht man nicht ernst zu nehmen.

 

 

Die ganze Geschichte im Beispiel 2 ist übrigens nur ein Spezialfall davon, daß man seine Aussagen – im Zweifelsfalle - auch begründen können müßte. Wenn jemand z.B. der Ansicht ist:

    <Niemand kommt auf die Idee, über Thermodynamik mal eben so zu schwatzen, aber alle Welt schwatzt über Argumente, Plausibilität, Überzeugungskraft (z.B.: zu Guttenberg, Müntefering, Merkel, Qualitäts-Journalisten des Deutschlandfunk und der gehobenen Presse usw.). Ich meine das gar nicht abfällig, ich will niemandem seine Wortwahl vorschreiben. Aber es kommt mir so vor, als ob "argumentieren" so ein Wort ist, das man einfach mal eben so benutzen kann.>

dann taucht  bei mir die folgende Frage auf:

    <Es wäre  für mich empirisch interessant: Guttenberg, Müntefering, Merkel haben wann und wo die Ausdrücke ‚Argumentation’, ‚Argumente’ bzw. ‚argumentieren’ verwandt? – Gibt es vielleicht dazu genauere Quellen, so daß man auch herausfinden kann, wie jene Politiker diese Ausdrücke verwendeten, was sie damit eigentlich meinten? – Denn nur dadurch ergibt sich für mich persönlich erst Erkenntnis im eigentlichen Sinne.>

Im Hintergrund habe ich persönlich nämlich eine andere Hypothese. Ich denke, daß Politiker nur selten, wenn überhaupt, den Ausdruck ‘Argumentation’ oder ‘Argumente’ verwenden - und dann auch nur ganz bestimmte Politiker, evtl. nur solche, die Argumentation tatsächlich ernst nehmen. Ich bin also gegenüber der obigen Ansicht des “Protagonisten” der “Antagonist”. Und in einem ordentlichen argumentativen Diskurs ist der Protagonist verpflichtet, seine Ansicht zu verteidigen, wenn der Antagonist ihn dazu auffordert. Wenn der Protagonist sich diesbezüglich verweigert, ist dies eine Verletzung des argumentativen Anstandes. Vgl. dazu das “Commandment 2” von Van Eemeren und Grootendorst, nämlich “the obligation-to-defend rule”:

    Discussants who advance a standpoint may not refuse to defend this standpoint when requested to do so. (A Systematic Theory of Argumentation, Cambridge 2004, S.191).

Desgleichen gehört es zum argumentativen Anstand, daß man seinen Irrtum, oder das, worin man selber Unrecht hat, im Laufe der Debatte offen zugibt “Commandment 9” von Van Eemeren und Grootendorst.

 

 

    <Du behauptest, sie würde durch „Liebesentzug zu erpressen“ versuchen – Dein altes Paradigma, um ihre Argumentation zu entwerten.>

Es ist im Zuge der Ausbreitung von Psychoanalyse, Psychotherapie und Selbsterfahrungsgruppen bei manchen Leuten üblich geworden, alles Mögliche unter psychologischen Gesichtspunkten zu interpretieren – auch Argumentationen, und sie dadurch nicht als solche ernst zu nehmen. Dabei ist erst mal wichtig, die Argumentation als solche zu widerlegen, um danach sich zu überlegen, welche psychologischen Gesichtspunkte hinter einer offenkundig unhaltbaren Argumentation liegen. Jedoch wenn eine Argumentation wirklich haltbar ist, gibt es daran psychologisch eigentlich nichts mehr als problematisch anzusehen. Haltbare Argumentation spricht für Korrektheit. Umgekehrt: Wer an wirklich haltbarer Argumentation psychologisch herummäkelt (beispielsweise mit dem obigen Erpressungsparadigma), steht meines Ermessens zu Recht im Verdacht, daß er eine Schraube locker hat. - Jedenfalls halte ich dies für eine fehlerhafte Argumentation, weil nicht wirklich auf das Argument als solches eingegangen wird, sondern es stattdessen von vornherein, ohne sorgfältige Prüfung, nicht ernst genommen wird.

Man könnte diese Art fehlerhafter Argumentation ”Argumentum ad psychologicam” benennen. Ein Ausdruck übrigens, der dem US-Sprachraum nicht unbedingt fremd zu sein scheint, wenn man das folgende Zitat im “pandagon.net: Gerry Marshall hates you” durchliest [Link ist spätestens seit 2017 tot]:

    “You must be bitter” = argumentum ad psychologicam. See also “You must not be very happy with your life” or “You must be a miserable [unglücklich, erbärmlich] person.” Frequently uttered by the intellectually shallow [seicht, dürftig] and those who are threatened [die sich bedroht fühlen] by any [irgendeiner] display [Darstellung] of negativity.

 

Das von mir so genannte argumentum ad psychologicam hat eine gewisse Verwandtschaft mit der fehlerhaften Argumentationsweise ‘ad hominem’, wenn man der Definition der Wikipedia folgt:

    Das Argumentum ad hominem (lateinisch „auf den Menschen gerichteter Beweis“) wird allgemein als Argument definiert, das die Persönlichkeit oder Umstände einer Person angreift statt deren dargebrachtes Argument. Dies geschieht meistens in der Absicht, das Ansehen oder die Position der betroffenen Person zu mindern oder zu relativieren.

Evtl. besteht die Verwandtschaft zum Unterfall “Ad  hominem circumstantial”:

    Ad hominem circumstantial [unwesentlich, nebensächlich] points out that someone is in  circumstances [Umständen] such that he is disposed [geneigt sein] to take a particular [spezielle] position. Ad hominem circumstantial constitutes an attack on the bias [Voreingenommenheit, Neigung, Hang] of a  source. This is fallacious because a disposition to make a certain  argument does not make the argument false...

     

 

    <Mir ist dieser Ausgangspunkt und diese ganze Herangehensweise und Perspektive nicht angenehm. Für mich klingt das, als ob ein Schmetterlingsforscher seine aufgespießten Schmetterlinge klassifiziert. Als Schmetterling möchte ich mich aber ungern klassifizieren lassen. Für mich sind diese Aussagen an sich gar nicht so falsch, aber die ganze Herangehensweise scheint mir nicht menschenfreundlich.>

Es handelt sich hier im Zitat um eine Erkenntnis bezüglich (soziologischer) Fakten. Die Erkenntnis dieser Fakten ist “nicht menschenfreundlich”, weil dem Autor die zugehörige Klassifizierung nicht gefällt. Es fragt sich, wie Klassifizierung von Erkenntnis zu trennen ist, insofern erscheint einem dieses “an sich gar nicht so falsch” entweder als ein Lippenbekenntnis oder aber es handelt sich um einen internen Widerspruch. – Es dreht sich hier um eine ziemlich kuriose fehlerhafte Argumentation, wenn man sie in Bezug setzt zum Ideal der Wissenschaft, daß man ohne Vorurteile die Realität betrachten sollte. Die im Zitat gemeinte unliebsame Ansicht, als klassifikatorische Ansicht, darf nicht sein, auch wenn die einzelnen Aussagen nicht (unbedingt) falsch sind. (Was irgendwie an Korff errinnert: die unmögliche Tatsache).

Je nach institutionellem Kontext und sozialer Funktion, könnte man das Argument auch als ideologisch bewerten. Etwa im Falle des SED-Parteisekretärs, der feststellt:

    “Die Aussagen als solche sind nicht unbedingt falsch, aber ihnen fehlt der sozialistische Klassenstandpunkt. Die ganze Herangehensweise ist von unserem Parteistandpunkt aus nicht vertretbar. Wir müssen sie also ablehnen. Wer solche Aussagen mit diesem Ausgangspunkt, dieser Herangehensweise und Perspektive vertritt, vertritt die Position des Klassenfeindes.”

Der ideologische Zweck der Übung wäre die Hemmung des freien Denkens zugunsten von Dogmatismus. Statt sich mit den unliebsamen Ansichten ernsthaft auseinanderzusetzen, werden sie vom Parteisekretär moralisch abqualifiziert. Es würde sich dann hier um ein Beispiel von Punkt  12 meiner Tabelle ideologischer Argumentationstricks (“Totschlagsargumente”) handeln.

Ob jedoch der obige Autor des Zitats das Argument lediglich als emotionales Argument oder im ideologischen Sinne verwendet, ist mir unklar, da ich den Autor nicht näher kenne. Es gibt meiner Ansicht nach schon eine gewisse Grenzüberschreitung hin zum Ideologischen. Aber auch als rein emotionales Aufschrei-Argument wäre es fehlerhaft (abgesehen von seiner internen Widersprüchlichkeit, die sowieso einen manifesten Argumentationsfehler impliziert). So meint Gary N. Curtis von den “Fallacy-Files”:

    Appeals to emotion are always fallacious [trugschlüssig] when intended to influence our beliefs...the fact that we fear something being true is no reason to think it false

 

 

    “Im übrigen hab ich mal so rein gelesen in andere Abhandlungen über das Thema X. Mir fällt auf, dass Person Y da mit dieser krassen Ansicht eine ziemliche Ausnahme ist.”

Insofern mit dieser Feststellung die “krasse Ansicht” von Person Y ad absurdum geführt werden soll, handelt es sich um das klassische ‘Argumentum ad Populum”. Stephen Down in seinem Guide to the Logical Fallacies [man darf mittlerweile an diese Website nicht mehr dran] bringt dazu auch das neo-klassische Beispiel:

    Everyone knows that the Earth is flat, so why do you persist in your outlandish [absonderlich] claims [Behauptungen]?

Es ist kein Argument im direkten Sinne. Man muß es sich als Argument erst rekonstruieren. Die englische Wikipedia schreibt folgendes:

    (Latin: "appeal to the people"), in logic, is a fallacious argument that concludes [folgert] a proposition to be true because many or all people believe it; it alleges [behauptet], "If many believe so, it is so."

Es scheint mir einleuchtend zu sein, daß dieses ‘Argument’ typisch ist für Argumentationsunfähige (AUF’s). Denn der Argumentationsfähige (AF) will, sofern er ehrlich argumentiert, per Argumentation selber was herauskriegen - oder jedenfalls keine unnötigen Vorurteile produzieren . Ein AUF jedoch kann sich - abgesehen von seinen eigenen unausgegorenen Phantastereien - bestenfalls auf  ‘Autoritäten’ beziehen, oder auf das, was die Anderen denken. Er selber kann sich ja nicht seines eigenen Verstandes bedienen [vgl. Kant: sapere aude!], d.i. eigenständig denken, dazu müßte er argumentieren können.

In der Regel weiß der AF, daß das Argumentum ad Populum kein relevantes Wahrheitskriterium ist, und daß die Tatsache der Ausnahme -Ansicht lediglich eine Orientierungshilfe ist. Denn daß irgend eine Ansicht eine Ausnahme gegenüber anderen Meinungen darstellt, beweist ja als solches noch nichts über die Richtigkeit oder Falschheit dieser Ansicht. Dazu müßte man jene Ansicht erst mal genauer überprüfen, notfalls ihre Unhaltbarkeit bzw. ihre mangelnde Plausibilität nachweisen. Das jedenfalls wäre die typische Haltung eines AF gegenüber einer Ausnahme-Ansicht, (auch) wenn er ihr skeptisch gegenübersteht.

 

Bei dieser Fallacy wird besonders deutlich, daß (vor allem aufgrund ihrer Indirektheit - und entsprechender Notwendigkeit der Interpretation) der Verwender, wenn man ihn darauf hinweist, einfach sagen kann:

    “Nöö, so hab ich das nicht gemeint. Das war doch nur eine einfache Feststellung, sonst nix. Daß Y Unrecht hat, habe ich damit nicht behauptet. Das ist Deine Interpretation.”

Es handelt sich um den typischen Haken, den ein AUF schlägt, wenn er merkt, daß er auf frischer Tat ertappt wurde. Da er ja nicht einfach nur argumentationsunfähig ist, sondern erst recht unfähig zur wahrhaftigen Argumentation, versucht er schnellstens alles abzustreiten. Verräterisch ist aber hier ganz klar die Bezeichnung “krasse Ansicht” - analog zu “outlandish claims”.  Jemand, der eine neutrale Festellung trifft, wird eine solche negativistische,  bewertende Ausdrucksweise nicht mit einflechten.

Van Eemeren und Grootendorst schreiben zu dem Problem der Interpretation:

    Usually it is a “matter of interpretation” whether there is a fallacy or not. This means that people accused of a fallacy can almost always deny that they have violated a discussion rule. They can say that the interpretation does not correspond to their intention and that they have certainly not said this. Of course, they may be right. If they are not, the only remedy [Abhilfe] is to point out to them what they can be held to [für was sie gehalten werden] in the given context and situation. (A Systematic Theory of Argumentation, Cambridge 2004, S. 184).

 

 

    Irrelevante Argumentation: Es gibt keine argumentative Verbindung zwischen dem, was jemand sagt, und dem was das eigentliche Thema ist. Vgl. dazu das Beispiel vom “unpraktischen Philosophen” auf dieser Website Argumentationskunst - Teil 1.

Im Abschweifungsmodus können solche irrelevanten Ausführungen auch die Bedeutung haben, daß jemand zeigen will, was für eine Geistesleuchte er doch ist. Bei Van Eemeren/Grootendorst findet dieser Argumentationsfehler seinen Ort kurz und knapp im Commandment 4:

    “Standpoints may not be defended by non-argumentation or argumentation that is not relevant to the standpoint.” (A Systematic Theory of Argumentation, Cambridge 2004, S.192)

(Siehe auch 1. Beispiel)

 

 

    „Ich kann Dir immer nur wieder mein Bedauern ausdrücken, dass es so gelaufen ist. Du scheinst der Ansicht zu sein, dass X ungut ist. - Schade!“

Dies ist die Reaktion auf begründende Argumente, warum X ungut ist. Es wird also nicht die Triftigkeit der Argumente kritisch untersucht, sondern lediglich eine (sozusagen ‘willkürliche’) ‚Ansicht’ als bedauernswert angesehen, der man auch genausogut eine andere ‚Ansicht’ gleichberechtigt entgegenstellen kann.

Diese Fallacy wird logischerweise von Argumentationsunfähigen benutzt. Denn wenn der Betreffende nicht argumentieren kann, nicht weiß was Argumentation im eigentlichen Sinne bedeutet, kann er ja logischerweise die vorgebrachte Argumentation gar nicht als solche bewerten und einschätzen. Insofern ist diese Fallacy Ausdruck von Ignoranz. So steht eine unreflektierte Ansicht einer reflektierten Ansicht (Argumentation) sozusagen gleichwertig gegenüber. Statt auf Argumente argumentativ einzugehen, werden dieselben lediglich als  (persönliche, willkürliche) Ansichten der betreffenden Person hingestellt.

 

 

Argumentum ad ignorantiam (Argument aus Unwissenheit oder persönlichem Unglauben)

In einem Dokumentarfilm über Mißbrauchsopfer stellt ein nunmehr Erwachsener, dessen Vater ihn als Kind sexuell mißbrauchte (es ging wohl um Manipulation des Geschlechtsteils des ab 8-Jährigen), diesen Vater zur Rede. Das Argument des Vaters war interessant: Er antwortete nämlich später seinem Sohn: „Ich hatte nicht das Gefühl gehabt, daß Du therapiebedürftig bist in diesem Zusammenhang.“ (Aus dem Film: „Kindesmissbrauch: tiefe Wunden, verletzte Seelen“, RTL 2010; darin wird aus dem Film des Filmemachers Michael Stock zitiert: „Postcard to Daddy“).

Diese Fehlargumentation war auch für mich schwer zu durchschauen, und nach Rücksprache mit meiner Frau diesbezüglich nehme ich an, daß es etlichen anderen (gebildeten Deutschen)  ebenfalls so geht.

Was bedeutet diese Argumentation eigentlich? Sie hat als Grundlage eine implizite Prämisse. Ich versuche sie folgendermaßen zu rekonstruieren: „Da Du auf mich nicht den Anschein erwecktest, daß Du wegen meiner Handlungen therapiebedürftig seist, waren meine Handlungen offenbar nicht schädlich.“ In diesem Argument wird geschlossen: dadurch daß der Beweis der Therapiebedürftigkeit mit Hilfe einer Therapie des Sohnes nicht angetreten wurde, war die Verhaltensweise des Vaters problemlos. Oder abstrakt ausgedrückt, wie es Robert T. Carroll in seinem ‘Skeptic’s Dictionary’ formuliert:

    something is true only because it hasn't been proved false…A claim's truth or falsity depends on supporting or refuting evidence to the claim, not the lack of support for a contrary or contradictory claim.

 

Die deutsche Wikipedia sagt folgendes zum Argumentum ad ignorantiam: Eine These wird für richtig erklärt

    allein weil sie bisher nicht widerlegt werden konnte. Der Fehlschluss wird ohne Sachargumente gezogen. Der so Argumentierende sieht seine mangelnde Vorstellungskraft oder sein Unwissen als hinreichend für die Widerlegung bzw. Bestätigung einer These an.

 

Der entscheidende Dreh dieser Fehlargumentation liegt also darin, daß jemand sich nicht die Mühe einer eigenen haltbaren Begründung für seine (implizite oder explizite) Behauptung macht, sondern statt dessen versucht, sich der Verantwortung dafür zu entledigen. Und zwar mit der folgenden Annahme: dadurch daß (bisher) nicht das Gegenteil gezeigt wurde, muß meine Sache ja richtig sein.

Im Falle des obigen Vaters würde ich behaupten: Der Vater benutzt mit Hilfe dieser Fehlargumentation den Abwehrmechanismus der Verleugnung, um sich dadurch mit dem Problem seiner Schuld nicht konfrontieren zu müssen. Insofern handelt es sich hier um einen Fall von ideologischer Argumentation. - Die genauere Definition des psychoanalytischen Fachbegriffs “Verleugnung” lautet:

    Im allgemeinen wird in der psychoanalytischen Literatur von Verleugnung gesprochen, wenn ein Vorgang in der Außenwelt, der unangenehme Folgen für das Ich hat, entweder überhaupt nicht gesehen, nicht anerkannt oder in seiner Bedeutung herabgesetzt wird.  (Yorick Spiegel, Der Prozess des Trauerns. Analyse und Beratung (1973), München: Kaiser 19732, S. 182 ff.)

 

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Zum Kapitel (6) - Rezension des Buches von Eemeren & Grotendorst: A Systematic Theory of Argumentation

 

 

 

 

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